Dokumentarfilme
Welche unterschiedlichen Schicksale entwickelten sich im letzten Jahr der DDR und den Anfängen des vereinten Deutschlands von Dezember 1989 bis Dezember 1990? Welche Umbruchserfahrungen werden in Langzeitbeobachtungen sichtbar? Die Hoffnungen und Enttäuschungen in konkreten Lebenswirklichkeiten wird vor allem in den Dokumentarfilmen von 1989/90 sowie der Nachwendezeit deutlich. Im Rahmen der Ausstellung zeigten wir folgende Perspektiven.
Aufbruch Leipzig – Oktober 89 (1989) von Georg Kilian
Im Oktober 1989, als in Leipzig die politische Lage in blutige Gewalt umzuschlagen droht, dokumentiert Georg Kilian in fesselnden Gesprächen den Aufbruch in eine neue Zeit. Die Bilder vom Massaker am 4. Juni in China sind noch lebendig, ein Leserbrief eines Kampfgruppenkommandeurs in der Leipziger Volkszeitung droht damit, notfalls mit Waffengewalt den Sozialismus zu verteidigen.
Die zum Teil bis heute bekannten Interviewpartner aus den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Kirche sprechen von ihrer Hoffnung und ihrem Enthusiasmus, den Zweifeln und Ängsten. Eine absolut sehenswerte Dokumentation, die dem Zuschauer viel vom Geist dieser Zeit vermittelt.
Zu Wort kommen Hans-Wilhelm Ebeling, Pfarrer der Thomaskirche, der wenige Monate später Politiker, Parteivorsitzender der neu gegründeten DSU und Minister in der Regierung von de Mazière wird, und Rolf-Michael Turek, Pfarrer der Markus-Kirchgemeinde. Arno Rink, Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst – bis ins neue Jahrtausend prägt er diesen Ort, einer seiner berühmtesten Schüler ist Neo Rauch. Schauspielerin Christa Gottschalk, Grande Dame des Leipziger Theaters, und die Kabarettisten Gunther Bönke und Bernd-Lutz Lange berichten von ihren Erfahrungen. Letzterer wird bekannt durch den Aufruf der Leipziger Sechs zu Besonnenheit und Dialog, am 9. Oktober über Stadtfunk verbreitet, gelesen von Kurt Masur. Weitere zu Wort kommende Zeitzeugen sind Prof. Karl Czok, Historiker, Prof. Dr. Karl-Friedrich Lindenau, Herzchirurg an der Karl-Marx-Universität, Dr. Gert Wohllebe, Generaldirektor des VEB Chemieanlagenkombinats Leipzig-Grimma und Thomas Hendrich, Meister im Drehmaschinenwerk Leipzig sowie Kampfgruppenmitglied.
Leipzig im Herbst (1989) von Gerd Kroske, Andreas Voigt
Die Ereignisse in Leipzig vom 16. Oktober bis 7. November 1989. Ein Wendefilm.
Demonstrationen und Diskussionen in Leipzig zwischen dem 16. Oktober und 7. November 1989. Interviews mit Teilnehmern der Massendemonstrationen, Gespräche mit den Müllmännern, die Banner und Plakate entfernen müssen – und dann doch gestehen, dass sie die darauf geschriebenen Forderungen berechtigt finden. Die aufgezeichneten Debatten unter Kollegen in den Betrieben spiegeln das Denken und Fühlen in der Anfangsphase des gesellschaftlichen Umbruchs wider. Zur Einschätzung der Lage äußern sich Vertreter des Neuen Forums, Theologen, Volkspolizisten, ihre Vorgesetzten und Staatsfunktionäre. Damals festgenommene Demonstranten zeigen nach ihrer Freilassung die Pferdeställe, in denen sie mit zig anderen zusammengepfercht 20 Stunden und mehr auf nacktem Betonboden stehend warten mussten. Ein junger Wehrpflichtiger, der auf Seiten der Volkspolizei zum Einsatz kommt, bekennt: „Ich habe mich unheimlich geschämt, für diese Misspolitik, die hier gemacht wurde, meine Person herzugeben … als Polizist diese Politik zu verteidigen, obwohl das gar nicht in meinem Sinn war.“
Nicht mal ein Dutzend DEFA-Dokumentarfilmer klemmen sich in diesen entscheidenden Tagen die Kamera unter den Arm und sammeln Material von der Wende. Voigt, Kroske und Richter versehen ihre Kompilation dementsprechend mit dem Untertitel: „Ein Material“. Sie ist die erste und bis heute vermutlich umfassendste Dokumentation der Ereignisse um den 9. Oktober. Das Filmteam bleibt dicht am Geschehen – vielleicht könnte ihr Film noch einen Beitrag zum Wandel leisten. Doch die Wirklichkeit überholt sie. Der Film wird auf dem Dokumentarfilmfestival in Leipzig 1989 als erster Rückblick gezeigt. Bis heute bewahren die Bilder ihre Unmittelbarkeit und durch ihre Authentizität und Glaubwürdigkeit sollten sie immer mal wieder eingesetzt werden, wenn „Volkes Wille“ unter den Schutt der letzten Jahrzehnte gerät.
Kehraus (1990) + Kehrein, Kehraus (1996) von Gerd Kroske
1990,„KEHRAUS“ nachts auf den Straßen von Leipzig: Straßenkehrer räumen weg, was keiner mehr brauchte. Neben vielem anderen Müll, auch abgenutzte Wahlplakate. Endzeitstimmung machte sich breit. Das was nach der DDR kommen sollte, klangt vielversprechend, war aber noch nicht faßbar.
Die drei Straßenkehrer Gabi, Henry und Stefan schwankten in ihren Lebensläufen schon immer zwischen den Polen: Kinderheim, Knast, Gelegenheitsarbeiten bei der Stadtreinigung.
1996, in „KEHREIN, KEHRAUS“ fegte schon niemand mehr von den Dreien die Straßen Leipzigs. Sie pendeln zerbrechlich zwischen Sozialamt, Kneipe und Behausung. Immer bleibt ein Rest, etwas was nicht aufgeht.
Märkische Trilogie (1988/89, 1990, 1991) von Volker Koepp
In der märkischen Kleinstadt Zehdenick an der Havel bestimmen seit 1888 Ziegeleien den Lebensrhythmus der Bewohner. Im Frühjahr 1988 besucht Volker Koepp mit seinem Kameramann Thomas Plenert die Zehdenicker. Die kommende politische Veränderung ist noch fern. Der Dokumentarfilm MÄRKISCHE ZIEGEL entsteht, wird aber wegen seiner Einblicke in die unwürdigen Arbeitsbedingungen von der DDR-Zensur zunächst zurückgehalten.
Als die Filmemacher im Herbst 1989 nach Zehdenick zurückkehren, ahnen sie nicht, dass sie den Zusammenbruch der DDR aus dem märkischen Blickwinkel heraus filmen werden. Etwas unaufgeregter, doch nicht weniger folgenschwer, vollziehen sich hier die Veränderungen, versuchen sich die Einwohner im Ruppiner Land mit den neuen Gegebenheiten zurechtzufinden. Koepp und Plenert gelingt es, in MÄRKISCHE HEIDE, MÄRKISCHER SAND die politischen Veränderungen ebenso präzise einzufangen wie die zeitlose Schönheit der Landschaft.
Ein Jahr später, im nun wiedervereinigten Deutschland, drehen sie wieder am selben Ort, der aber nicht mehr derselbe ist. MÄRKISCHE GESELLSCHAFT MBH zeigt, wie an die Stelle der harten Arbeit lähmende Arbeitslosigkeit getreten ist.
Im Durchgang – Protokoll für das Gedächtnis (1989) von Kurt Tetzlaff
Endzeit DDR – Revolution und Resignation im Wechsel. Ein Jahr lang – vom März 1989 bis März 1990 – beobachtet Regisseur Kurt Tetzlaff den 18jährigen Pfarrerssohn Alexander. Was als Skizze über einen schrägen Vogel aus der alternativen Szene des Potsdamer Cafés Heider gedacht war, wächst durch die politischen Ereignisse zu einem exemplarischen Dokument der Wendezeit. Die offiziellen Verlautbarungen der DDR-Regierungen, widergespiegelt in Beiträgen der „Aktuellen Kamera“, stehen im deutlichen Kontrast zu den offen geäußerten Gedanken des Jugendlichen.
Alexander zieht nach der 10. Klasse von seinem Elternhaus in Brielow nach Potsdam, um dort die Helmholtz-Oberschule zu besuchen. Eine seiner Mitschülerinnen ist Anja Kling, die kurz vor der Wende die DDR verlässt. Die Klasse 12.2 inszeniert Michail Schatrows berühmtes Perestroika-Theaterstück „Diktatur des Gewissens“. In seinem Abituraufsatz bezieht sich Alexander darauf und kommentiert: „Auch Stalin hätte niemals so herrschen können, wenn es nicht Leute gegeben hätte, die beherrscht sein wollen.“ Alexander beklagt die staatliche Bevormundung, die den Lebensweg des einzelnen formt, ohne dass ein Ausbrechen möglich ist. Da eine totale Wehrdienstverweigerung mit Gefängnisstrafe geahndet wird, will er zu den Bausoldaten gehen. Als er mit ein paar Freunden und eigenen Transparenten an einer Großkundgebung gegen Faschismus teilnimmt, werden sie von Sicherheitskräften verprügelt und 12 Stunden lang verhört. In diesen Umbruchzeiten sympathisiert Alexander mit dem Neuen Forum. Doch am 17. März 1990, einem Tag vor der Volkskammerwahl, sind seine Hoffnungen in Resignation umgeschlagen. Er findet die „Vision eines gesamtdeutschen Vaterlandes“ erschreckend, hatte er doch auf eine Alternative zu Sozialismus und Kapitalismus gesetzt. Abschließend resümiert er: „Wir verkaufen uns für D-Mark, Mallorca und Marlboro“.
Im Übergang beginnt mit der Silvesterfeier 1989/90, der ersten gemeinsamen Feier von Ost- und Westdeutschen, auf der Glienicker Brücke – jener Brücke zwischen Berlin-Wannsee und Potsdam, auf der in der Zeit des Kalten Krieges Spione ausgetauscht wurden und die zu DDR-Zeiten „Brücke der Einheit“ hieß. Mit der Vereinigungsfeier am 3. Oktober 1990 – auf eben dieser Brücke – endet der Film. Regisseur Kurt Teztlaff gibt dem Film bewusst einen Untertitel „Protokoll einer Hoffnung“: die Hoffnung derjenigen, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen und eine neue Gesellschaftsform einforderten. In der Entwicklung der folgenden Monate, die der Regisseur mitverfolgt, zeigt sich was aus dieser Hoffnung wird. Das knappe Jahr des Übergangs bis zur deutschen Einheit in Potsdam wird in den persönlichen Erfahrungen und Reflexionen eines Jugendlichen geschildert. Neben dem Portrait eines Jugendlichen, dessen Haltung viele seiner Generation teilen, ist der Film ein wichtiges Dokument über den Prozess der deutschen Wiedervereinigung.
Die Liebe zum Schrott und andere Leidenschaften (2003) von Bernhard Wutka und Thomas Doberitzsch
12 Jahre nach der Wende. Hat das goldene Zeitalter im Osten angefangen? Viele sind gen Westen gezogen. Von denen, die geblieben sind, haben einige ihr Glück gemacht, viele jedoch auch nicht. Diese Trennung findet meist auch in den Städten statt. So sind es dann ganz bestimmte Stadtteile, in denen sich die Verstoßenen der Wende und der Gesellschaft zurückgezogen haben. In den Städten haben sie den Ruf der Problemstadtteile, in denen sich Arbeitlosigkeit, Kriminalität und Rechtsradikalität breit machen. Stadtteile, die von der Öffentlichkeit gerne gemieden oder verleugnet werden. Es seien die Viertel der Billigläden, der An- und Verkäufe und einem großen Anteil an ausländischen Bewohnern. Doch kann man diese Viertel so pauschalisieren? Haben nicht gerade diese Viertel auch die Chancen auf einen besseren alternativen Neuanfang? Kann sich nicht gerade in so einem Viertel, in dem die Mieten billig sind, es häufig die größten Grünflächen gibt und unterschiedlichste Nationalitäten auf engstem Raum zusammenleben, eine neue Kultur, eine bessere soziale Gesellschaft entwickelten? Es gibt gute und schlechte Beispiele dafür. In den westlichen Bundesländern gibt es diese Gebiete aus anderen historischen Hintergründen, doch die Situation ist überall ähnlich.
Regisseur Bernhard Wutka, der jede Woche zwischen Leipzig und Hamburg unterwegs ist, kennt diese Thematik gut. Als das Bund-Länder-Förderprogramm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Die soziale Stadt“ im Leipziger Raum dem Stadtteil Leipzig-Ost Fördergelder bewilligte, wurde er auf dieses Viertel aufmerksam. Zusammen mit dem Kameramann Thomas Doberitzsch machte er sich selbst ein Bild über diesen verrufenen Teil Leipzigs. Entstanden ist eine Sammlung von Bildern, Eindrücken und Lebensgeschichten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die mit den Vorurteilen ein wenig aufräumen. Wutka malt das Bild eines städtischen Lebensraumes, in dem sich Menschen aus den unterschiedlichsten Motiven eingerichtet haben und die sich im Geiste der Philosophie des „Leben- und Lebenlassens“ miteinander nun arrangieren müssen: Da gibt es den Besitzer eines indischen Lokals, der im Dachgeschoss seines Hauses einen Sikh-Tempel eingerichtet hat. Da gibt es den Altmetallhändler, der sich wie ein „guter Hirte“ der versprengten Individuen annimmt, die mit Schrottsammeln ihr Leben fristen. Da gibt es den Physikprofessor aus München, der ein altes Haus gekauft und in ein Galerie-Hotel verwandelt hat, das Anziehungspunkt für Künstler aus ganz Deutschland geworden ist. Da gibt es eine orientalische Bar, in der die Luft von dem süßen Geruch der Wasserpfeifen und den leidenschaftlichen politischen Diskussionen der Exilanten erfüllt ist. Da gibt es den Chef eines winzigen Reisebüros, der mit Galgenhumor und sarkastischer Courage gegen seine ungünstige Geschäftsentwicklung ankämpft. Nicht zu vergessen: die Bürgerinitiativen und Vereine und die „ganz normalen“ Bewohner des Viertels, die sich gegen die Diskriminierung ihres Stadtteils verwehren. Bernhard Wutka und Thomas Doberitzsch urteilen nicht, sie beobachten nur. Nach dem 80minütigen Film kann der Zuschauer seine eigene Schlüsse ziehen, denn natürlich ist dieser nie zu Ende. Er wird sich sowohl in den Köpfen der Zuschauer als auch in der Realität auf eigene Art und Weise fortsetzen.